Samstag, 28. Januar 2012

Verzweiflung in der S-Bahn und es herrscht betretenes Schweigen

Rödelheim. S5 Richtung Friedrichsdorf. Gegen 20 Uhr abends. An der Galluswarte steigt eine junge Frau mit Kinderwagen zu. Sie schluchzt. Sie murmelt etwas vor sich hin, wie schlimm alles sei, ausgerechnet, jetzt, in der fremden Stadt, hoffentlich bekommt die Oma nichts davon mit. Sie klingt verzweifelt. Kurz drauf bimmelt ihr Handy. Mit tränenerstickter Stimme beginnt sie zu erzählen. Dass sie doch erst vor einer Woche nach Frankfurt gekommen sei, um neu anzufangen. Geld hätte sie gehabt für den Neustart. Gardinen wollte sie kaufen gehen, nur vorher noch schnell zu Rewe rein. An der Kasse kam das böse Erwachen. Geld weg. Gestohlen? Wahrscheinlich. Nein, die Tasche am Kinderwagen sei offen gewesen. Zum Sozialamt, zur Arge - niemand könne helfen, erst in drei Tagen oder sowas. Doch wie soll sie in der Zeit das Kind bloß durchbringen, übers Wochenende, ganz ohne Geld. Sie legt auf und weint weiter.
Ich schaue mich um: Ihr gegenüber sitzt ein Mann, blickt konzentriert auf sein 500-Euro-Smartphone.
Mit gegenüber ein kräftiger Herr, der sich alle Mühe gibt den Anschein zu erwecken, er habe davon nichts mitbekommen. Ich selber scheue mich auch rüberzusehen, weil ich nicht weiß, was ich machen soll.
Ich beginne zu überlegen: Zu Hause sind noch einige Gläschen Babynahrung, die könnte ich ihr geben, dazu ein paar Windeln. Doch ich behalte diese Gedanken erst einmal für mich. Ich bin unschlüssig. Bahnhof Rödelheim steige ich aus. Sie auch. Sie hadert noch immer schluchzend mit ihrem Schicksal. Ich überhole. Überlege mir auf dem Weg durch die Unterführung, dass ich sie vor dem Rewe abfangen werde, um ihr anzubieten, dort die nötigsten Dinge für sie einzukaufen.
Als sie um die Ecke biegt, unterhält sie sich mit einem jungen Pärchen, Anfang 20 - höchstens, vermutlich Türken.
Die Mutter: "Nein, das kann ich nicht annehmen, wirklich nicht."
Er: "Kommen Sie, das ist okay, wirklich."
Die Mutter: "Nein, wirklich nicht."
Sie: "Kommen Sie, ich bin auch schwanger."
Die Mutter lehnt weiter ab.
Er: "Dann gehen wir hier hinein und kaufen ein, was Sie brauchen."
Wieder lehnt sie ab, versucht sich von dem Gespräch loszureißen, hastet in Richtung Bushaltestelle.
Ich habe die Diskussion verfolgt. Mehr aber auch nicht. Hätte ich dem Paar zur Seite springen sollen - ebenfalls Hilfe anbieten? Wenn sie aber doch nicht will. Ich fühle mich erleichtert. Aber ich wundere mich auch über mich. Warum fällt es mir so schwer, kurzerhand auf diese Not leidende Frau zuzugehen und meine Hilfe anzubieten?
Klingt es hartherzig zu sagen, ich hatte Zweifel an der Echtheit der Situation? Als Journalist bin ich es gewohnt, dass Menschen, die zu mir den Kontakt suchen, dies nicht tun, weil ich so ein netter Kerl bin. Jeder verfolgt damit einen bestimmen Zweck. Sei es, für ein Konzert zu werben - das sind die harmlosen Fälle. Oder sei es, weil man sich erhofft, mich für seine Zwecke instrumentalisieren zu können. Glauben Sie mir: niemand kommt einfach nur so, weil er denkt, er habe eine gute Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Doch zurück zur Frau: Dass sie litt war offensichtlich. Ihre Verzweiflung sicher ernst. Doch warum geht jemand hin, hält gut hörbare Monologe, um sich dann später doch nicht helfen lassen zu wollen? War es am Ende doch die Scham, die bei ihr überwog, das Gefühl womöglich zu versagen und nicht alleine für das Kind sorgen zu können? Nur eine Masche? Ich glaube, die anderen Leute um uns herum fochten ähnliche Duelle mit ihrer inneren Stimme.
Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht und werde es wahrscheinlich auch nicht erfahren. Ich für mich möchte aber künftig versuchen, mein Mißtrauen etwas häufiger zu hinterfragen und spontaner zu sein - gerade wenn es um Hilfe geht. Denn richtig wohl fühle ich mich dabei immer noch nicht.

3 Kommentare:

Andy Walther hat gesagt…

Ja, es ist manchmal ein Dilemma! Der "Großstadtdschungel" verarscht einem durchschnittlich oft in so einem Großstadtleben. Aber - wenn wir deshalb verlernen auf unsere Intuition und unser "Herz" zu hören verbittern und erstarren wir doch irgendwann völlig.

Was verlieren wir, wenn wir das "Viele" (was wir im weltweiten Vergleich mit den meisten Menschen haben) mit jemandem teilen der wenig oder nichts hat?!
Im Zweifel bleibt - wenn wir "reingelegt" werden - ein wenig Ärgerlichkeit über unsere Dusselichkeit.
Na und?! Haben wir schnell vergessen. Aber einmal einem Mitmenschen aus dringender Not heraushelfen, die Hand reichen, "wiegt" mehrmals reingelegt werden auf.
Gesundes Mißtrauen ist vollkommen okay. Die Frage ist eher was "Dauermißtrauen" und ständiger Argwohn mit uns allen anstellen.

Anonym hat gesagt…

Komisch, sonst wimmelt es doch in unserer Gesellschaft nur so von
Gutmenschen....Wir sollten die Menschen an Taten und nicht an Worten messen, insbesondere jene, die ständig die moralische Meinungshoheit für sich in Anspruch nehmen.
Aber immerhin hat der Autor zugegeben, dass er ein Feigling ist.

Anonym hat gesagt…

Das war eine Masche, ich habe die Frau beobachtet ... jemand gab ihr Geld, sie bedankte sich, blieb in der Bahn - ich fuhr weiter mit (entfernt) sie wanderte etwas nach vorne und wieder die Sache mit dem Telefon und ihr Gejammer und immer schön den Kinderwagen im Weg, so dass keiner vorbei kam. Diesselbe Leier ... ich ging in ihre Nähe, sagte laut, was ich bemerkte und forderte sie auf, die Menschen nicht weiter anzulügen.

Hier sollte unser Mitleid schändlich ausgenutzt werden ... die Telefonmasche habe ich schön öfter beobachtet in der S-Bahn - also nur Mitleidtour - LEIDER